Deutschland: Klimaneutralität erreichen, ohne den sozialen Zusammenhalt zu schwächen

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Deutschland ist nach wie vor ein großer Verursacher von Treibhausgasen, nimmt mit seinen Bemühungen, sie zu reduzieren, allerdings auch eine Vorreiterrolle ein. Das Land hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis 2045 klimaneutral zu sein. Dazu muss das Tempo der Emissionsminderung allerdings im Vergleich zum Zeitraum zwischen 1990 und 2019 verdreifacht werden. Durch die stark anziehenden Energiepreise und die Notwendigkeit, Energieimporte aus Russland zu ersetzen, ist die Entschlossenheit zu handeln noch gestiegen.

Deutschland ist nach wie vor ein großer Verursacher von Treibhausgasen

China und Welt: 2019.
Anmerkung: Teil A zeigt die Länder mit dem höchsten Anteil am weltweiten CO2-Ausstoß.
Quelle: IEA, Greenhouse Gas Emissions from Energy (Datenbank).

Empirische Analysen für den OECD-Wirtschaftsbericht Deutschland 2023 zeigen, dass eine Beschleunigung der Emissionsminderung energieintensive Branchen, die internationaler Konkurrenz ausgesetzt sind, wahrscheinlich belasten wird. Sie hätte außerdem eine erhebliche Reallokation von Arbeit zwischen Wirtschaftssektoren und Unternehmen zur Folge, was wiederum die Anpassungskosten für Arbeitskräfte sowie die Ungleichheit und regionale Unterschiede erhöht.

Das Erreichen ehrgeiziger Klimaziele hätte unterschiedliche Auswirkungen auf die einzelnen Sektoren und Regionen

Anmerkung: Die Abbildungen zeigen die Simulationsergebnisse eines mehrere Länder und Sektoren umfassenden berechenbaren allgemeinen Gleichgewichtsmodells. Darin werden die Effekte der Maßnahmen, die für das Erreichen der Klimaziele des EU-Pakets „Fit für 55“ im Jahr 2030 erforderlich sind, quantifiziert und mit einem Referenzszenario verglichen, das von einer Fortsetzung der Politik des Jahres 2021 ausgeht.
Quelle: Bickmann et al. (erscheint demnächst).

Wie kann Deutschland Klimaneutralität kosteneffizient erreichen, ohne den sozialen Zusammenhalt zu schwächen? Der Wirtschaftsbericht Deutschland 2023 identifiziert sechs Prioritäten:

1. Weiter auf Mechanismen zur CO2-Bepreisung setzen, um die Emissionen effektiv zu reduzieren und zugleich die wirtschaftlichen Kosten der ökologischen Transformation zu minimieren. Deutschland bepreiste im Jahr 2021 bereits 90 % seiner Treibhausgasemissionen explizit oder implizit mit einem durchschnittlichen effektiven CO2-Grenzpreis von 81 EUR, was einem Anstieg um 46 % gegenüber 2018 entsprach. Das ehrgeizige Ziel, die Emissionen bis 2030 um 65 % (gegenüber dem Niveau von 1990) zu senken, setzt jedoch noch höhere Preise voraus. Der Wechsel zu einem Cap-and-Trade-System für Nicht-ETS-Sektoren (hauptsächlich Gebäude und Verkehr) sollte früher eingeleitet werden. Dabei sollte die Emissionsobergrenze an einem einheitlichen Minderungsziel ausgerichtet werden, das für alle im Rahmen des nationalen Emissionshandelssystems regulierten Sektoren gilt (zumindest bis das europäische Emissionshandelssystem für die Sektoren Straßenverkehr und Wärme in Betrieb genommen wird). Ein Mindestpreis in diesem System wird die künftigen CO2-Preise vorhersehbarer machen und die Risiken für Investitionen in CO2-arme Projekte verringern.

2. Schädliche Subventionen und Steuervergünstigungen für fossile Energieträger abbauen, z. B. die Energiesteuervergünstigung für Dieselkraftstoff, die Entfernungspauschale oder die steuerliche Vorzugsbehandlung für privat genutzte Dienstwagen. Diese umweltschädlichen Subventionen und Steuervergünstigungen belaufen sich auf 65 Mrd. EUR, schwächen und verzerren die Preissignale, behindern den Marktdurchbruch von umweltfreundlichen Produkten und gefährden die Klimaziele. Werden sie abgebaut, stehen zusätzliche Mittel für Emissionsminderungs­subventionen oder direkte Geldleistungen an vulnerable Haushalte zur Verfügung.

3. Schrittweise von Subventionen für wettbewerbsfähige Erneuerbare auf eine gezieltere Förderung für grüne FuE und den Einsatz von nahezu emissionsfreien Industrietechnologien umstellen. Subventionen für erneuerbare Energien helfen, die Strompreise zu senken, und unterstützen folglich energieintensive Branchen. Empirische Analysen für den OECD-Wirtschaftsbericht Deutschland 2023 zeigen jedoch, dass sie kostspielig sind und höhere Emissionen in anderen EU-Ländern bewirken. Eine rückläufige Nachfrage nach Emissionszertifikaten in Deutschland führt zu niedrigeren CO2-Preisen im Emissionshandelssystem (ETS) der EU, da die Gesamtemissions­obergrenze unverändert bleibt, was es anderen Ländern ermöglicht, ihre Emissionen zu erhöhen (sog. Wasserbetteffekt). Es gibt bessere Möglichkeiten, den Risiken für die energieintensiven Branchen zu begegnen: gestraffte Planungs- und Genehmigungs­verfahren für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien und der Netzinfrastruktur, höhere Ausgaben für FuE im Energiesektor und der Industrie – die entscheidend für eine Reduzierung der künftigen Vermeidungskosten sind – und internationale Abkommen zugunsten einer weltweit schnelleren Emissionssenkung. Da die Stromversorgung aus erneuerbaren Energien stärkeren Schwankungen unterliegt als Kern- oder Kohlekraftwerke, ist eine beschleunigte Integration des europäischen Strommarkts entscheidend, um Angebot und Nachfrage besser aufeinander abzustimmen und die Energiesicherheit zu erhöhen.

Die öffentlichen Ausgaben für FuE im Energiesektor könnten gesteigert werden

Öffentliche Mittel für Forschung, Entwicklung und Demonstration (RD&D) im Energiesektor, je 1 000 BIP-Einheiten, 2021

Quelle: IEA, Energy RD&D Budget/Expenditure Statistics.

4. Nicht zielgerichtete Subventionen sowie Beihilfen für ausgereifte Technologien abbauen, um mit den verfügbaren Ressourcen vulnerable Haushalte stärker zu unterstützen und die öffentliche Infrastruktur zu verbessern. Zum Beispiel sollten im Gebäudesektor nicht zielgerichtete Subventionen auslaufen und durch Mindesteffizienzstandards und Energieausweise für den Gebäudebestand ersetzt werden. Staatlich geförderte Kredite sollten dabei finanzschwachen Haushalten vorbehalten sein. Im Verkehrssektor sollte sich der Schwerpunkt von der Subventionierung von E-Autos auf den Ausbau der öffentlich zugänglichen Ladeinfrastruktur und auf öffentliche Investitionen in das Schienennetz verlagern. Im Bahnsektor gilt es vor allem, die Streckenelektrifizierung und die Digitalisierung der Kontroll- und Signalsysteme zu beschleunigen sowie dafür zu sorgen, dass Wettbewerbshindernisse abgebaut werden.

Die Investitionen in das Schienennetz sollten weiter steigen

Anmerkung: Für die Vereinigten Staaten werden Daten von 2019 verwendet.
Quelle: Datenbank des Weltverkehrsforums.

5. Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik ausweiten – insbesondere auf berufliche Aus- und Weiterbildung sowie Mobilitätszuschüsse –, um die Anpassungskosten für die von der ökologischen Transformation betroffenen Arbeitskräfte zu senken. Laut einer Analyse für den Wirtschaftsbericht Deutschland 2023 müssen entlassene Arbeitnehmer*innen in CO2-intensiven Sektoren lang anhaltende und besonders hohe Einkommensverluste hinnehmen. Die Beschäftigten in diesen Sektoren sind im Durchschnitt älter und haben eine längere Betriebszugehörigkeit, außerdem haben sie häufiger eine berufliche und seltener eine allgemeine akademische Ausbildung durchlaufen. Ihre Berufe sind zudem oft sehr spezifisch und beinhalten mehr Routineaufgaben. Die negativen Auswirkungen dieser Merkmale auf das Erwerbseinkommen nach einer Entlassung deuten darauf hin, dass die Spezifität des Humankapitals (insbesondere in Bezug auf Routinetätigkeiten) sowie das Fehlen bestimmter Grundkompetenzen (insbesondere bei älteren Arbeitnehmer*innen) die Kosten für entlassene Arbeitskräfte in CO2-intensiven Sektoren maßgeblich steigern. Besser erging es allerdings entlassenen Arbeitnehmer*innen, die dank höherer Mobilität eine neue Beschäftigung außerhalb ihres lokalen Arbeitsmarkts finden konnten.

Entlassene Arbeitnehmer*innen in CO2-intensiven Sektoren erleiden langfristige Einkommensverluste

Quelle: Barreto, Grundke and Krill (erscheint demnächst[1]).

6. Einen größeren Teil der Einnahmen aus der CO2-Bepreisung auf die Entlastung von Haushalten während der ökologischen Transformation verwenden. Wenn die Einnahmen nicht an Haushalte rückverteilt werden, büßen ärmere Haushalte einen beträchtlichen Teil ihres Realeinkommens ein, da die Löhne angesichts höherer Produktionskosten sinken, während die Preise für Strom, Verkehr und Heizung ansteigen. Im untersten Dezil der Haushaltseinkommensverteilung ist der Anteil der Ausgaben für Energie und Verkehr an den Gesamtausgaben mit 18,9 % deutlich höher als im obersten Dezil (10,1 %). Eine für den OECD-Wirtschaftsbericht Deutschland 2023 erstellte Analyse hat aber gezeigt, dass Niedrigeinkommenshaushalte von einer ehrgeizigeren Klimapolitik profitieren würden, wenn die zusätzlichen Einnahmen aus der CO2-Bepreisung als Pauschalbetrag rückvergütet würden.

Eine pauschale Rückvergütung von Einnahmen aus der CO2-Bepreisung würde ärmeren Haushalten zugutekommen

Veränderungen des realen Haushaltseinkommens nach Ausgabendezil, im Vergleich zum Referenzszenario (in %)

Anmerkung: Die Abbildung zeigt die Simulationsergebnisse eines mehrere Länder und Sektoren umfassenden berechenbaren allgemeinen Gleichgewichtsmodells. Darin werden die Effekte der Maßnahmen, die für das Erreichen der Klimaziele des EU-Pakets „Fit für 55“ im Jahr 2030 erforderlich sind, quantifiziert und mit einem Referenzszenario verglichen, das von einer Fortsetzung der Politik des Jahres 2021 ausgeht. Im Szenario mit Rückvergütung werden Einnahmen aus der CO2-Bepreisung als Pauschalbetrag an die Haushalte rückvergütet.
Quelle: Bickmann et al. (erscheint demnächst[2]).

Reference:

OECD (2023), OECD Economic Surveys: Germany 2023, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/19990251.

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