Álvaro Santos Pereira, Interim-Chefvolkswirt der OECD
Die Weltwirtschaft wird momentan durch die schwerste Energiekrise seit den 1970er Jahren erschüttert. Dieser Schock hat die Inflation in Höhen getrieben, die wir seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben, und das Wirtschaftswachstum weltweit gebremst. In ihrem neuen Wirtschaftsausblick geht die OECD davon aus, dass das Wachstum der Weltwirtschaft 2023 auf 2,2 % zurückgehen und 2024 wieder auf relativ bescheidene 2,7 % steigen wird. Asien wird 2023 und 2024 der größte Wachstumsmotor sein. In Europa, Nordamerika und Südamerika dagegen wird das Wachstum sehr verhalten bleiben.
Höhere Inflation und niedrigeres Wachstum sind der Preis, den die Weltwirtschaft für Russlands Angriffs-krieg gegen die Ukraine bezahlt. Bereits der rasche Aufschwung nach der Pandemie und die damit einher-gehenden Lieferengpässe hatten für Preissteigerungen gesorgt. Nach der russischen Invasion in der Ukraine ist die Inflation dann sprunghaft angestiegen und hat weltweit deutlich stärker um sich gegriffen.
Der unerwartete Preisauftrieb führt dazu, dass die Reallöhne in vielen Ländern fallen und die Kaufkraft sinkt. Dies trifft die Menschen überall hart. Wenn die Inflation nicht eingedämmt wird, werden sich diese Probleme weiter verschärfen. Daher muss die Inflationsbekämpfung im Moment unsere oberste Priorität sein.
Weltweit erhöhen Zentralbanken die Zinsen, um in ihren Volkswirtschaften die Inflation einzuhegen und die Inflationserwartungen zu verankern. Diese Strategie zahlt sich allmählich aus. In Brasilien beispiels-weise, wo die Zentralbank rasch handelte, hat die Inflation in den letzten Monaten abgenommen. Auch in den Vereinigten Staaten deuten die neuesten Daten auf Fortschritte bei der Inflationsbekämpfung hin. Dennoch sollte die Geldpolitik in den Ländern, in denen die Inflation nach wie vor hoch und breit basiert ist, weiter gestrafft werden.
Im Kampf gegen die Teuerung ist zudem eine enge Abstimmung zwischen Geld- und Fiskalpolitik erforderlich. Wenn fiskalpolitische Entscheidungen den Inflationsdruck verstärken, müssen die Leitzinsen noch stärker angehoben werden, um die Inflation unter Kontrolle zu halten. Daher sollten Maßnahmen, mit denen Familien und Unternehmen bei der Bewältigung des Energiepreisschocks unterstützt werden, ziel-genau und befristet sein. Sie sollten gefährdete Haushalte und Unternehmen schützen, ohne den Inflationsdruck und die öffentliche Schuldenlast zu erhöhen. Die Regierungen haben bereits zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der hohen Energie- und Nahrungsmittel-preise abzufedern, wie z. B. Preisdeckel, Preissubventionen und Einkommensbeihilfen sowie Steuer-senkungen. Da aber die Energiepreise noch eine ganze Weile hoch und volatil bleiben dürften, werden pauschale Maßnahmen zur Eindämmung der Preise zunehmend unfinanzierbar. Sie könnten zudem die Anreize für die notwendigen Energieeinsparungen schwächen.
Die Energiemärkte zählen nach wie vor zu den wesentlichen Abwärtsrisiken für diesen Ausblick. Europa hat bei der Aufstockung seiner Erdgasreserven und der Verringerung der Nachfrage bereits große Fortschritte erzielt. Dennoch wird dieser Winter in der nördlichen Hemisphäre zweifellos eine Heraus-forderung. Im Winter 2023/2024 könnte sich die Situation noch verschärfen, da die Wiederaufstockung der Gasreserven im nächsten Jahr schwieriger werden könnte. Höhere Gaspreise oder tatsächliche Unter-brechungen der Gasversorgung würden 2023 und 2024 in Europa und auf der ganzen Welt für deutlich schwächeres Wachstum und höhere Inflation sorgen.
Auch die steigenden Zinssätze bringen zahlreiche Herausforderungen und Risiken mit sich. Für Unter-nehmen, Staaten und private Haushalte, die variabel verzinste Kredite bedienen oder neue Kredite auf-nehmen müssen, wird der Schuldendienst teurer. Besondere Sorge bereiten uns Niedrigeinkommens-länder, da mehr als die Hälfte dieser Länder bereits überschuldet sind (oder ein hohes Überschuldungs-risiko aufweisen) und nun mit restriktiveren Finanzierungsbedingungen konfrontiert sind. Die Abwertung der Landeswährungen gegenüber dem US-Dollar in vielen dieser Länder, ebenso wie in aufstrebenden Volkswirtschaften, verschärft diese Risiken zusätzlich.
Russlands Krieg gegen die Ukraine verschlimmert zudem die globale Ernährungsunsicherheit, da er die Preise in die Höhe treibt und die Nahrungsmittelversorgung wie auch die Bezahlbarkeit von Nahrungs-mitteln gefährdet. Vulnerable Bevölkerungsgruppen sind weltweit besonders von Ernährungsunsicherheit bedroht, und viele Regierungen haben nicht die nötigen Mittel, um diese Krise zu bewältigen. Oberste Priorität sollte daher sein, die Märkte offen zu halten, einen funktionierenden Handel mit Agrargütern sicherzustellen und zielgerichtete Hilfe zu leisten, um weitere Störungen der Nahrungsmittelversorgung und Hunger in vielen dieser Länder zu verhindern.
Politikmaßnahmen für einen stärkeren Aufschwung
Die Politikverantwortlichen müssen diesen großen Herausforderungen entschlossen begegnen. Neben der Geld- und Fiskalpolitik sollte auch die Strukturpolitik wieder in den Blick genommen werden, um einige der momentan drängendsten Probleme zu überwinden.
Erstens muss unbedingt in die Energieversorgungssicherheit und die Diversifizierung der Energie-versorgung investiert werden. Um Versorgungsstörungen zu verhindern, greifen viele Länder vorüber-gehend wieder auf umweltschädlichere und CO2-intensivere Energieträger zurück. Die hohen Energie-preise und die Sorge über die Versorgungssicherheit veranlassen Regierungen und Unternehmen aber auch dazu, ihre Energiequellen zu diversifizieren und mehr in erneuerbare Energien zu investieren. Um das Ziel der Treibhausgasneutralität zu erreichen, müssen die Stärkung der Energienetze sowie Investitionen in Energieeffizienz und grüne Technologien ganz oben auf der politischen Tagesordnung stehen. Die OECD unterstützt diese Anstrengungen durch ihr Inclusive Forum on Carbon Mitigation Approaches (IFCMA). Dieses Forum fördert den Dialog zwischen Ländern, die sich in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung befinden, und ermöglicht es, unterschiedliche Politikansätze bei der CO2-Minderung sowie deren Effekte besser zu verstehen und zu analysieren.
Zweitens müssen die Regierungen dafür sorgen, dass die Märkte offen bleiben und der internationale Handel weiter funktioniert. Dies wird den Wettbewerbsdruck erhöhen und Lieferengpässe verringern. Protektionistische Politikmaßnahmen hingegen wären ein bedeutender Rückschlag für viele Länder, insbesondere für die ärmsten Länder der Welt, und würden der Weltwirtschaft schweren Schaden zufügen.
Drittens muss die Beschäftigung gefördert werden, um das Potenzialwachstum zu steigern und einen stärkeren Aufschwung mit größerer Breitenwirkung zu erzielen. In Ländern beispielsweise, in denen nach wie vor ein großes Gefälle zwischen den Beschäftigungsquoten von Männern und Frauen besteht, sollten sich die Regierungen bemühen, diese Beschäftigungslücke zu reduzieren. Wichtig sind auch Investitionen in Kompetenzen, um dem Humankapitalschwund insbesondere in vulnerablen Bevölkerungsgruppen entgegenzuwirken, zu dem es während der Pandemie gekommen ist, und die seit Längerem bestehenden und zunehmenden Kompetenzengpässe in vielen Ländern zu adressieren.
Fazit
Wir sehen uns aktuell mit einem sehr schwierigen wirtschaftlichen Umfeld konfrontiert. In unserem Basis-szenario gehen wir zwar nicht von einer globalen Rezession aus, wir rechnen aber damit, dass sich das Wachstum der Weltwirtschaft 2023 erheblich verlangsamen wird. Zudem dürften viele Länder nach wie vor eine hohe – wenn auch nachlassende – Inflation verzeichnen. Die Risiken bleiben beträchtlich. In diesen schwierigen und unsicheren Zeiten spielt die Politik, wie so oft, eine entscheidende Rolle: Die Geld-politik muss weiter gestrafft werden, um die Inflation zu bekämpfen, und die fiskalpolitische Unterstützung sollte zielgenauer gestaltet und befristet werden. Investitionen in die Nutzung und Entwicklung sauberer Energieträger und Technologien müssen beschleunigt werden, um die Energieversorgung zu diversifizie-ren und Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Strukturpolitische Maßnahmen können helfen, die Be-schäftigung und Produktivität anzukurbeln, und dafür sorgen, dass das Wachstum allen zugutekommt. Anders ausgedrückt: Wir haben es in der Hand, diese Krise zu bewältigen. Und wir können unsere Erfolgs-chancen durch die richtigen politischen Weichenstellungen verbessern.
Editorial from the OECD Economic Outlook, November 2022